Polianders Zeitreisen

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Am Ende des Sommers

29.09.2024 · poliander

P. beendete die Zeit der Nächte, die bei 32 °C begannen und an deren Ende schon wieder die Schwüle regierte, indem sie die Stadt verließ. Am Tag der Abreise, hörte P. später, begann es zu regnen.

Oh, und es regnete auch, als P. und der Gefährte die Fähre bestiegen. Es war die große, die Autofähre (für Insiderinnen: Wer zu Fuß kommt, muss nicht vorbuchen). Das leichtere Schiff, das, das den Adler im Namen trägt, das, von dem aus man schon unterwegs die Seehunde sieht, ging nicht. Denn der Wellenschlag war so stark, dass es wohl abgehoben wäre. Die großen Wellen also schlugen gegen den Unterboden der Fähre: Wumm! Wumm!

Ja, und es regnete, als der Gefährte und P. die Fähre verließen und ihre Rucksäcke zur Villa buckelten, ja, zur der, von der man den weiten Blick hat: bei Hochwasser 2 km Sand bis zum Spülsaum, bei Niedrigwasser sogar 3. Ein Zimmer zur Miete mit Blick vom Küchentisch hinaus übern Strand. Aber da sitzen blieben sie nicht. Zum Strand gingen sie auch bei Regen, dahin, wo das erste Glas Wein der Reise wartet, jedes Mal wieder. Am Morgen strahlte ein Regenbogen, der einen Fuß im Watt stecken hatte, den anderen im Sand. Riesig stand er über der Insel und rahmte sie mit seinen Füßen.

Doppelt schien er auch, doch dieses Phänomen ist keins zum Fotografieren. Ein Regenbogen existiert und ist zugleich ein Symbol des Göttlichen, das Herz und Hirn erfüllt. Fortan, wie immer, wenn man durchnässt und in Böen eintrifft, bot die kleine Insel alles an Sonne, Wind und Wolkenspiel auf, was das Herz begehrte. Und ah!, ein Frösteln. P. begrüßte die halb vergessene Empfindung erfreut.

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

was braucht es der Worte mehr? Geschwommen sind sie auch in den herrlichen Wellen.

Und gegangen, kilometerweite Wege durch den weichen, weißen Sand, wo sie das Glück des Nordens wiederentdeckten, den Wind und das Alleinsein mit dem Geräusch der Wellen. Menschen waren da auch, oh ja, doch noch viel mehr Vögel, zu Hunderten saßen sie im Watt und begrüßten jede Ebbe aus ihrem Innersten, von dort, wo die Liebe hindurchgeht, vom Magen her. Denn die Reise der Knutts, der Stare und Gänse, sie wird erst beginnen, wenn sie sich vollgegessen haben, dort im Watt, an all den kleinen und kleinsten Lebewesen, die das zurückweichende Wasser freigibt in Schlick und Sand. So geschieht es jeden Herbst. “Weil das Leben schön ist”, kreischten die Möwen. Und P. kaufte ein Shirt mit den Koordinaten der Insel. P. und der Gefährte gingen und gingen und fühlten die Ribbel unter den Sohlen und den Muskelkater in den Hüften. Ah.

Wo aber fanden sie das Haar in der Suppe, den Haken am Kniep?

Zum ersten Mal, seit P. und der Gefährte dorthin kommen, war die Insel der Vögel auch eine Insel der Mücken, der kleinen Gnitzen, und der gewöhnlichen, der fetten Stechmücken. Sie schwärmten aus, tags und nachts. Und an den Tagen, an denen der Wind nachließ, die Wellen ein wenig versandeten, erschien ein Teppich aus Braunalgen und machte den Einstieg zum Schwimmen unangenehm und schlüpfrig. So waren sie zwar der heißen Stadt entflohen, nicht aber der Klimakrise, denn Mücken und Algen sind die Zeichen des viel zu warmen Sommers, der in diesem Jahr auch dort herrschte, am nördlichen Meer. Und so atmete diese Reise die Moral der Geschicht und den Anspruch der Geschichte, die Einsicht im Wellenschlag: Es hilft nur, das Leben zu ändern, das eigene. Leser und Leserin, Sie wissen, was wir meinen: Die Fußabdrücke vom Gehen sind so groß wie die Füße. Und die CO2-Fußabdrücke, sie dürfen nicht mehr größer werden, sondern müssen schrumpfen. Nichts anderes hilft, und jeder fasse sich dabei an die eigene Nase, die von der Sonne verbrannte.

Zurück in der Stadt, die Kastanien haben all ihre Blätter schon verloren. Auch das, Sie wissen schon. Doch endlich auch hier ist es nun kühl, ein Septemberende fast wie damals, vor der Krise.

Am Tag nach der Rückkehr laufen Tausende durch die Stadt. Berlin-Marathon: die reinste Freude von allen für alle. Wer laufen mag, kann dabei sein, und auch wer schauen mag, ist willkommen. Und alle jubeln den Läufern zu und Läuferinnen. Kein Neid, kein Spott, nur Freude über alle anderen, die Laufenden und Schauenden. P. steht und schaut und freut sich wie jedes Jahr. Mein Lieblingsfest in der Stadt! Das reinste Vergnügen.

Und nun: wirklich Herbst.

Koordinaten: 54° 39′ 6” N, 8° 20′ 11” O

Noch eins?

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