Jeden Tag geht Poliander hinaus. Jeden Tag geht Poliander hinein. Jeden Tag findet Poliander sie, jeden Tag kommt sie zu Poliander: die Sprache. Sprechen hören, sprechen und gehört werden, lesen, schreiben und gelesen werden, das ist P.s Leben. Wird nach P.s Beruf gefragt, antwortet P. oft: “Lesen und schreiben.” Als P. von diesem Buch hörte, von diesem Titel “Sprache und Sein”, stutzte P. Die Besprechungen klangen interessant. Der Titel aber klang nach Heidegger und seinen Exegeten, womöglich als ob eine hier nach den Sternen griffe, ein bisschen zu hoch, ein bisschen zu weit, von allem ein bisschen zu viel.

Warum sollte Kübra Gümüşay nicht nach den Sternen greifen?
Und so beginnt sie mit dem Licht eines Himmelskörpers, das, wenn sein Leuchten auf die Meeresoberfläche trifft, im Türkischen mit dem Wort yakamoz bezeichnet wird. Und dieses Wort, tatsächlich, hat im Deutschen keine Entsprechung, vor allem keine, die sich mit einem einzigen Wort benennen ließe. Dieses leuchtende Wort yakamoz bewirkt, so Gümüşay, dass sie das, was es bezeichnet, erst oder erst richtig wahrnimmt, seit sie das Wort dafür hat. Was es bezeichnet? Nehmen Sie das Buch, lesen Sie selbst. Was P. dazu beiträgt, ist nur eine Kleinigkeit: Das “z” am Ende hört das Ohr als ein weiches “s”, wie in so vielen Sprachen, nur nicht im Deutschen.
Mit dem überaus poetischen Beginn ihres Texts gibt Gümüşay dieses und viele andere Beispiele dafür, wie Sprache und Sein für uns, uns Menschen, von Anbeginn ineinander verwoben sind. Ich spreche, schreibe und denke in drei, ich fühle in vier Sprachen, sagt sie von sich selbst. Zwei der drei Sprachen, in denen sie denkt, lernte sie von Mädchenbeinen an, türkisch und deutsch. Dann kam die englische Sprache. Auch die vierte der Sprachen, in denen sie fühlt, das Arabische, hörte sie schon als Kind, als Neugeborenes sogar schon, ihr Großvater flüsterte ihr die ersten Worte Arabisch ins Ohr.
Davon lesend, fühlt die Leserin, fühlt P., wie auch für sie jede der Sprachen, die sie spricht und versteht, eine eigene, tiefe Bedeutung hat, wie jede mit einem Gefühl, einem Gemisch von Gefühlen verbunden ist. Der Dialekt, als Kind gehört, vom Vater verboten, das Hochdeutsch, um das sich das Kind zu mühen hatte, die erste, die zweite, die dritte Sprache. Die lebenden Sprachen, die sie teilen kann, die toten, die ihr nur geschrieben begegneten. Und jener Tag, als ihr eine jener toten Sprachen urplötzlich lebend begegnete, wiederum in einem Dialekt. Plötzliches Leuchten. Daran zu denken, bewegt P.
Ah! P. vermisst Heidegger kein bisschen beim Lesen.
Von Geschichten, vom Berichten ihrer eigenen Erfahrung und der anderer Menschen, die wie sie schon als Kinder in zwei Sprachen oder sogar drei aufwuchsen, kommt Gümüşay zu einem der größten Probleme der Gegenwart und genau dieser Tage, in denen wir leben. Zum Missverstehen-Wollen, In-Schubladen-Stecken und In-Schubladen-Gesteckt-Werden, zum Sich-Einordnen-Lassen-Müssen, zum Benanntwerden und Sich-Benennen-Lassen-Müssen, zur Hassrede zuletzt. Dazu, dass diejenigen, die sich selbst als “Mehrheit” verstehen, als “Norm” begreifen, die sich in der Gesellschaft als “oben” behaupten, alle anderen benennen wollen und benennen. Dass Menschen andere “die mit M-Hintergrund”* nennen, zum Beispiel, oder “K-Mädchen”*. Dass sie die Anderen nicht als Menschen, als Individuum zu sehen bereit sind, sondern sie zum Typen machen, in eine Schublade stecken, in der der Aufenthaltsstatus oder die Kopfbedeckung angeblich alles sagen über eine Person, deren Individualität auf diese Weise negiert wird. Gümüşay findet dafür das eindringliche Bild eines Museums der Sprache, in dem die einen frei herumgehen und alles benennen, bewerten können, die andere, die “Benannten” aber nur zur Verfügung zu stehen haben, dienend, in Käfigen. Und wehe, wenn die Benannten Ihre Benenner als “alte weiße Männer” ebenfalls in eine Schublade werfen. Nur mal als Beispiel.
Und wer das liest, kann, darf und sollte sich fragen, wo er oder sie steht in diesen Zuweisungen. Und wo stehen wir wann und in welcher Situation, haben wir immer die gleiche Rolle? Oder wechselt das? Dass die Leserin sich diese Frage stellt, damit ist viel gewonnen, und wenn ein Leser sich das fragt, bedeutet es zumindest eine kleine Hoffnung.
Es schadet nicht, einmal zuzuhören und zu lesen, wie Gümüşay beschreibt, wie sie immer und immer wieder nicht als Kübra, als ein Mensch, ein Individuum angesprochen wurde, sondern als Repräsentantin, als “muslimische Frau” (die folglich alle anderen Musliminnen oder sogar Muslim!nnen zu repräsentieren und zu erklären habe), “als junge muslimische Frau” oder was der Stereotypen noch mehr sind. Und wie dabei die Stereotypen aufeinanderstießen, denn sie ist ja so viel mehr als Frau oder Muslima, unter anderem Hamburgerin, Mutter, Feministin. Mensch eben, individuell, wie wir alle. Nehmen Sie es zur Kenntni, Leserin, Leser, ja, das können Sie verkraften! Und es ist gar nicht schwer, denn Kübra Gümüşay hat darüber in einer bewussten, genau richtig poetischen und klaren Sprache geschrieben.
Nun gut, so weit, so gut sei das ja alles, hat P. inzwischen in mehreren Rezensionen gelesen. Doch am Ende, wenn es darum ginge, wie man das ändern kann, wie man den Hass wieder herausbekomme aus der Sprache, seien Gümüşays Vorschläge doch eher spärlich und dünn.
P. sieht das nicht so.
Ganz klar: Gegen Terror brauchen wir den Staat, die Polizei, die die Augen vor nichts verschließen darf, wir brauchen kluge Gesetzgebung und entschiedene Justiz. Das sind starke Mittel, Menschen vor Angriffen zu schützen. Daran gibt es keinen Zweifel.
Doch die Sprache, das Sprechen, das Gespräch gehören unverzichtbar dazu. Miteinander zu sprechen, sich auseinanderzusetzen und übereinzukommen, ist sehr wohl ein Konzept. Sprache und Sprechen sind Voraussetzungen für die genaue Analyse, ohne Sprache finden wir nicht in eine demokratische Haltung bei der Bewertung dessen, was geschieht, ohne Sprache erfinden wir keine Veränderung. Wir wollen, müssen miteinander darüber sprechen, wie wir unser Zusammenleben organisieren. Gümüşay zitiert den afroamerikanischen Bürgerrechtler Adam Claytin Powell jr., der ihr zufolge gesagt hat: Entweder wir praktizieren die Demokratie, die wir predigen, oder wir halten den Mund. Und sie zitiert weiter, nämlich die Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan: Der Kernkonflikt in postmigrantischen Gesellschaften dreht sich nur an der Oberfläche um Migration – tatsächlich ist der Konflikt jedoch angetrieben von der Aushandlung und Anerkennung von Gleichheit als zentralem Vesprechen der modernen Demokratien, die sich auf Pluralität und Parität als Grundsatz berufen.
Miteinander sprechen, aushandeln, das klingt für manche Leser!nnen, für einige Rezensent!nnen wie ein schwaches Argument. Für P. ist es eines der stärksten Argumente, auf die wir uns berufen können. Denn es geht dabei, wie Gümüşay zu Recht betont, darum, im Gegenüber den Menschen zu erkennen, das Individuum mit einer individuellen, unverwechselbaren Geschichte.
Und weil auch P. nach den Sternen greifen will, schaut P. zu einem der schönsten Sterne am Himmel der Denker!nnen. Eines von Gümüşays vielen, gut gewählten Motti und Zitaten, an prominenter Stelle und gleich zu Beginn, stammt von Dschalal ad Din Rumi, und es lautet:
Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort.
Dort treffen wir uns.
P. erinnert sich, dass es eine Zeit gab, in der Bücher, Manuskripte, Texte auch aus klug gfundenen und an den besten Platz gestellten Zitaten, also den Gedanken anderer, bestanden und diese, im Licht der eigenen Gedanken, zu neuen Gedanken führten, zu ihrem Sitz im Leben. Und darum ist der Titel des Buchs so gut gewählt: Sprache und Sein.
So sei es.
Koordinaten: Kübra Gümüşay, Sprache und Sein, Hanser Berlin 2020.
* Ja, ich könnte diese Wörter ausschreiben. Aber ich möchte es nicht, da ich die damit verbundenen Stereotypen hier nicht reproduzieren will.