Polianders Zeitreisen

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Novak

08.02.2016 · poliander

für C. S.

 

Schreiben Sie Gedichte, fragte die Schuldirektorin, oder – Zögern, Brauen nach oben – Lyrik?

Im Unterricht lasen wir: Der Wind zieht seine Hosen an,/ Die weißen Wasserhosen! Die beiden Sitzenbleiber saßen direkt vor mir und kicherten. Sie waren von dieser Deutschlehrerin zu uns gekommen, die auch Parteisekretärin war. Hört ihr zu? Sie prusteten. Von hinten rief ein Junge: Genau! Wir lesen gern Gedichte. Ich konnte es nicht fassen, dass das ernst gemeint war. Niemand kicherte, wir machten weiter. Es war ernst, ich konnte es nicht fassen. Ein Mädchen sagte mit Genuss: So eine große Windhose. Lauter Schaum.

Die Schüler/innen fragten gar nicht nach dem Dichter.

An den Mastbaum klammert die Möwe sich
Mit heiserem Schrillen und Schreien;
Sie flattert und will gar ängstiglich
Ein Unglück prophezeien.

Sie fragten nach dem Unglück, das mit lustigen Wasserhosen beginnen konnte, und ob es eintraf. Aber es blieb ungewiss und endete darum auch nicht. Nur Heines Gedicht, das war jetzt vorbei. Und was tat uns das an, nicht zu wissen, welches Unglück und ob es nun hereinbrechen würde oder nicht. Die Prophezeihung nahm ihre Erfüllung vorweg. Mehr erfuhren wir nicht.

Lauter Schaum!, sagte die Tochter des Polizisten. Die beiden vom letzten Jahr Übriggebliebenen kritzelten in ihre Hefte.

Lauter ist ein bedrohtes Wort (es sei denn, es wäre der Komparativ von laut). Lauter und klar, rein, das meint dasselbe (ungefähr, sagt P., ganz genau gleicht ja nie ein Wort dem andern. Sie sind Geschwister, die Wörter, nicht Zwillinge.) Viele Gewässer, Bäche, Flüsse heißen so, Lauter. Lauter Regenwasser: die luft ward lauter see, hat Opitz geschrieben, das schreiben die Brüder Grimm. Es heißt auch durchaus, völlig, gänzlich, ganz. Lauter Schaum, sagte das Mädchen und schmeckte darin das salzig Aufgeschäumte vom Meer.

ich bin ostdeutsch das zieht sich hin
wie der Rauch an erloschenen Dochten

schreibt Helga M. Novak. Wie kommt P. jetzt darauf? Helga M. Novak liegt auf dem Teppich vor dem Bett, zwischen Teppich und “Exodus”. P. meint nicht fortgehen, P. meint das Buch.

… das zieht sich hin
wie der Rauch…

Was gibt’s da nicht zu verstehn? Über Schuhe hat sie auch geschrieben:

armer Mann wo bist du
ich seh nur deine schuhe
voller Wüstensand
sehe deine Schuhe
und tausend andre Schuhe
voller Sand und ohne Mann
armer Mann wo bist du
wer hat dich vom Holzpflug
wer hat dich vom Wasserrad
weggerufen um dich
in den Krieg zu schicken

Ja. Ja. Warum P. das abschreibt, haben wir nicht diese Phase der manuellen Gedichtreproduktion (Samisdat und so) überwunden? Warum also ich das sage, warum ich das jetzt ausgrabe, hier. Und was sie sagen, warum sie das nicht verstehn. Ist dir aufgefallen, fragt mich P., seit wann duzt mich P.?, schon immer, ist dir aufgefallen, fragt mich P., dass sie immer alles verstehen wolln. Ja, sage ich, ich habe das Buch auch gelesen. Welches Buch jetzt?, fragen sie. Denken Sie nach!

das zieht sich hin

Ja, P. versteht schon: Das verstehen Sie jetzt nicht. Was sich da hinzieht und wohin zieht es sich, was will sie da sagen? Das dauert. Sich hinziehen, das ist temporal. Wieso zieht es sich dann wie Rauch, der zieht doch weg, nicht hin, das ist lokal. Das ist emotional. Das ist maximal. Einfach: zuviel. Das kommt von diesen Längengraden, weiter östlich, das muss man doch verstehbar machen oder wenigstens verständlich, das geht vielleicht beides (egal), aber, P., das muss Ihnen doch aufgefallen sein!, dass das für diesen Markt und für jetzt. Schreiben Sie ruhig einen kommentierenden Satz. Und der Rauch an erloschenen Dochten, mal ehrlich, das wissen wir ja, wie schnell der vorbeigeht. Einmal lüften.

der Wacholder duckt sich
kraucht über die Steine
vor der Reife erfrieren die Beeren
kein Becher faßt sie ein

Warum, P., kommen Sie gerade jetzt damit! “Ostdeutsch das zieht sich”, so haben Sie doch noch nie geredet, eine Dichterin, und ihr Gedicht ist gut, sehr gut sogar, aber was wollen Sie denn jetzt damit, das ist doch erschienen! Dass Sie jetzt damit kommen, haben Sie nicht andere Sorgen?, und sie ist doch im wirklichen Leben, in ihrem wirklichen “unlebbaren Leben”-, gut, das ist ein Zitat, und übrigens, ein Zitat aus einem ganz anderen Kontext! Und sie hat doch so viel gelebt, an so vielen Orten und am Ende diese Stimme gehabt, mit der sie zu jener Dichterin sagte: — Und jetzt mal ganz sachlich und ohne Übertreibung: Ihr Leben, Sie kommen ja wohl klar damit. (Selbstverständlich, sagt P., ohne zu lügen.) Und, liebe P., da müssen Sie dem Leser doch ein wenig helfen, das zu verstehn. Und was wollten Sie sagen, und warum kommen Sie damit heute?

P. (bockig): Hat sich eben so lang hingezogen. (ab)

Koordinaten: Helga M. Novak, wo ich jetzt bin, Gedichte. Frankfurt am Main 2005. Jochen Hörisch, Die Wut des Verstehens. Zur Kritik der Hermeneutik. Frankfurt am Main 1988.

Erregung
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