Polianders Zeitreisen

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Begeisterte Neujahrsnacht

31.12.2015 · poliander

Ins Gesicht schauen

Geistern ins Gesicht schauen

Dunkle Stunde 18 Uhr, hinter Spiegeln fälteln Rüschen sich und Hemdausschnitte, aufgeworfene Lippen absorbieren Rot, die erste Cognacflasche ist geleert, austernblass glimmt es in der Schale, granatapfelbrennender Ritz, granatfunkelndes Dekolletée, geisternde Blicke voll Erwartung. Draußen feuern Siebenjährige Knaller über den Asphalt, mit Papa, und während Mama das erste silberne Haar an der Schläfe ausreißt, drinnen, platzt draußen Silberregen vom Zaun. Die Alte im Parterre macht sich Kaffee, Kaffe, Cafè, Tasskaff, mit Satz im Tassenboden macht sie einen auf Bohne, auf Dedeerr, auf israelisch, türkisch, und wenn sie später die Tasse stürzt, liest es sich im Kaffeesatz so anheimelnd, das neue Jahr, so erschrecklich, angstheischend und wunderlich. Laub klumpt feucht an Mauerwerk, geisternde Geigerinnen spielen Vivaldi in Parkbaumgeäst, jenseits des Teichs ziehen Scharen vorbei, blaues Licht erscheint und Fontänen, Wasserspritzer, angestrahlt von Leuchten, die in Händen von Wassergeistern sind. Tanz beginnt und Ausschweifungen, keiner weiß in diesem Park, aus welchem Fuchsbau das neue Jahr sich entrollen wird, die Polonaise der Geister marschiert von einem zum nächsten im Rhythmus von “Kashmir” singen sie Lieder, die dem jungen Fuchs die Unschuld von vornherein austreiben solln. Nur Engel leiden noch an Melancholie. In den Sälen schwillt Trunkenheit, die Nüchternen tanzten eben noch Twist, nun erfolgt Hippie’s Renaissance, an Stehtischen isst man Pilzgerichte, schleudert die Schuhe fort und leert die Flaschen: uuuuu yeaaaaaah.

Doch das neue Jahr wird anderwärts geboren. Auf einem Feld, nah bei der Weide der Schweinchen mit Ringelbauch, nah am Stall der gesperberten Hühner, dort, wo jetzt ein paar Frauen gerannt kommen aus einer anderen Welt, den Perchten vertraut, ungewaschen riechen sie, schlecht gelüftet, gut geräuchert, Salbeiduft und Rosmarin, sie halten Salz bereit, das Jahr abzureiben, das aus eigner Kraft schon aus der Furche kriecht, Hintern voran, Federn im Fusselhaar und Fell untern Sohlen, mit dicken Beinchen, ein Kind, das noch jedes Geschlecht werden kann, ein heiliges Dingelchen, rund und mit langsam fließendem Säften benetzt. Hier dein Rucksack, Kind, mit Trompete drin und Leatherman, am Gatter dort dein Fahrrad, du wächst schnell, denn hier bleibst du nur den Augenblick, die Stunde der Stunden, in der sie dir die Brust geben mit Milch und Honig, Whisky und Kaffee, ungesüsst, schwarz wie Pech. (Stark saugt das Kind.) Gleich drehst du dich, gleich hast du die karierte Hose an, die Flügel am Schuh, wir eilen und gehn in die Knie vor einem grotesken Gesicht, das sich zu Holz verwandelt und sein Gegenüber zeugt, Gebete, Formeln, alte und neugefundene, hörst du, jetzt, noch einen Augenblick, lass dein Ohr im Raunen, ehe du eilst! (Kind schwingt sich aufs Rad.) Nimm nicht den Weg durch den Park, Kind, und nicht die Untergrundbahn und meide die Radwege, auf denen Bierflaschen zerplatzten, Zauber hüllt dich ein, Wünschen Neujahr—

Gleich bist du am Ort, wo auf dem Balkon ein Engel steht, der Engel des alten Jahres, er singt die Arie des Cavaradossi, ein verzweifelter Augenblick, nie hat er sein irdisches Leben so geliebt, und die Stunde geht hin, er hebt seine transluzenten Flügel. Feuerwerk bricht los, die Feuer durchscheinen sein Gefieder, gefiltertes, vielfach gebrochenes Licht, in dem der irdische Körper sich löst, Knallergeprassel, Donnerschlag und Sternenschauer. In welche Richtung, an welchem Himmel fliegt der Engel und mit wessen Körper?

Auch das irdische Kind sieht nicht, wohin er verschwunden ist. Denn es hat Andres jetzt zu tun.

Koordinatenklang: Vier Jahreszeiten: Winter, Mari Boine: Vuoi Vuoi MuE lucevan de stelle.

Erregung
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